Nach erholsamen Wochen in Sibirien und einer Entscheidung die es in sich haben sollte, sind wir Richtung Schwarzes Meer aufgebrochen. Die endlosen Weiten, Felder, Steppe und Wälder haben den Wunsch nach Meeresrauschen geweckt. Mit dem Zug fahren wir vorbei an der Donezk Linie nach Krasnodar und weiter nach Adler. Die Temperaturen fühlen sich gleich wieder wie Hochsommer an. Bei guten Freunden kommen wir für ein paar Tage unter und können eine wunderbare Kombination aus frischer Meeresbrise und dem endlosen Ausblick auf die Gipfel des Kaukasus genießen.
Am 19. September heißt es dann Abschied nehmen und Koffer packen. Nicht nur von Zhenja und Oksana sondern auch von Tatjana. Für mich geht die Reise noch etwas weiter. Schwieriger ist die Organisation für eine nötige Umverpackung um das Rad im Flugzeug mitzunehmen. Nach einigem hin und her halten wir endlich einen Fahrradkarton in unseren Händen. Doch leider etwas zu klein, was wir natürlich erst auf dem Flughafen feststellen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als das Fahrrad in seine Einzelteile zu zerlegen. Nach gut zwei Stunden ist alles verpackt und aufgegeben. Wir genießen einen heißen Kaffee und merken beide wie die Anspannung immer mehr zunimmt. Kurz vor vier Uhr morgens ist es dann soweit. Es wird Zeit ade zu sagen. Nach einem emotionalen Abschied schließt sich die Tür zum Sicherheitsbereich und Tatjana wird in wenigen Minuten abfliegen.
Ich schwinge ich mich aufs Rad und fahre Richtung Bahnhof. Ich möchte nicht mehr länger hier bleiben und kaufe mir ein Ticket nach … . Ja wohin eigentlich? Ich entscheide mich nochmal nach Suchum zu fahren, da ich zum einen keine Lust verspüre 900 km auf mich zu nehmen um über den Kaukasus zu fahren und zum anderen, ich gar nicht mehr genügend Tage mit meinem Russlandvisum habe. Der Zug braucht für die 150 Kilometer ca. sage und schreibe 5 Stunden. Nach einer erfolgreichen Grenzkontrolle komme ich gegen Mittag am Bahnhof an. Was mich hier her treibt, ist der Gedanke an den Weg mit dem geringsten Widerstand, doch dieses Glück sollte nur von kurzer Dauer sein.
Auch ich musste mein Rad für die kurze Strecke verpacken und etwas demontieren. Also geschwind wieder alles zusammenbauen und los gehts. Endlich, nach gut vier Wochen Pause trete ich mit vollem Elan in die Pedale. Das Wetter ist herrlich warm und die Landschaft subtropisch. Mit jedem Kilometer wird auch der Verkehr auf der einzigen Hauptverbindungsstraße weniger. Nach gut 35 km komme ich an ein Schild, welches zum Flughafen weist. Ich fahre daran vorbei, entscheide mich aber wenigen Sekunden später doch die 4 km lange Zufahrtsstraße zu befahren. Ich hatte auf meiner Karte einen stillgelegten Flughafen gesehen und das musste er sein. Zudem habe ich jetzt viel Zeit die auch genutzt werden will. Ich biege als auf die Zufahrtsstraße ein und fahre, auf dem am Horizont sichtbaren Terminal zu. Alles wirkt wie in einem Dornröschenschlaf. Es erinnert an längst vergangene Tage. Die Anlage ist riesig, mit eigenem Hotel, Abflughalle und ein, für die Zeit, moderner Komplex für die Ankunft. Man kann förmlich das Kerosin riechen und die strahlenden Gesichter, der Ankommenden, erahnen. Ich stehe auf einer Kreuzung und lasse alles auf mich wirken. Freunde von “Lost places” kommen hier voll auf ihre Kosten.
Am Ende der sandigen Seitenstraße erblicke ich eine Gestalt auf einem Fahrrad. Mit jedem Meter wird die Silhouette schärfer und ich erkenne zudem Fahrradtaschen am Gepäckträger. Ein Radreisende/r, hier, an diesem Ort. Ich bin gespannt und erfreut zugleich. Wenige Meter vor mir sehe ich, dass es nur ein älterer Herr auf seinem Damenrad ist. Okay, schade.
Ich schiebe mein Rad noch etwas über das Flughafengelände, welches über die längste Landebahn der Welt verfügt. 4 km lang, war sie als Notlandebahn für die russische Buran-Raumfähre gebaut wurden. Der ältere Herr spricht mich an, wo ich herkomme. Ich sage ihm aus Deutschland und prompt fragt er mich warum ich dann nicht deutsch rede, natürlich auf deutsch! Und wieder bin ich überrascht, mehr als zuvor. Viktor lebt ein halbes Jahr hier und ein halbes Jahr in Deutschland. Er sagt das Klima sei gut für Beschwerden und andere Wehwehchen. Er lädt mich zum Mittagessen zu sich ein. Seine Frau ist weniger erfreut mich zu sehen. Sie hat Angst vor Fremden und ist misstrauisch. Ich beschließe nur kurz zu bleiben und sie von ihrem Leidensdruck zu erlösen. Doch Viktor sprudelt vor Energie und Freude. Will alles wissen, wie, warum und wieso, ich hier bin und mit Rad, und und und.
Die Zeit vergeht wie im Flug und bevor es dunkel wird, fahren wir zu einem Freund von Viktor. Ich bekomme einen Schlüssel zu seinem Haus und darf dort übernachten. Ich bin sprachlos. Ich teile Viktor mit, dass ich am nächste Morgen sehr früh aufbrechen will um weiter zu fahren. “Ist gut” antwortet er und verschwindet, auf seinem Rad, so wie er heute Mittag gekommen war. Ich genieße eine heiße Dusche und schlaf danach sofort ein. Was für ein Tag.
Der nächste Morgen beginnt früh, aber nicht ganz so früh wie ich geplant hatte, dafür war das Bett einfach zu gut. Ich schwinge mich auf mein Rad und entschließe unterwegs zu frühstücken und mir ein Kaffee zu gönnen. Die Temperatur ist gegen acht Uhr schon angenehm warm. Nach gut 30 km genieße ich einen leckeren Kaffee und einen Teller Borschtsch. Viktor hat mir den Tipp gegeben nicht in dieser Gegend bis zur Grenze, im freien zu übernachten. Ich komme zudem nur langsam voran, da ich immer wieder anhalte um Fotos zu machen oder Gebäude zu erkunden. Ich entschließe mich 10 km vor der Grenze in …. eine Unterkunft aufzusuchen. Nur wo? Ich frage im örtlichen Krankenhaus nach und einen Augenblick später stehen viele hilfsbereite Krankenschwestern um mich herum, das sie zuerst glauben und wahrscheinlich auch verstehen, dass mir irgendetwas fehlen würde. Ja ein Zimmer oder eine Bleibe. Unzählige Telefonate später kommt jemand der ein paar Brocken englisch spricht und vermittelt mich an eine Familie im Nachbarhaus. Die obere Etage wird für mich frei geräumt und für einen kleinen Unkostenbeitrag, kann ich solange bleiben wie ich will. Ich bin wieder mal überwältigt und bedanke mich, gebe aber gleich zu verstehen, dass ich morgen zur Grenze will. Das Stirnrunzeln auf den einzelnen Gesichter soll mir demnächst noch zu denken geben.
Der nächste Morgen beginnt wieder in völliger Entspannung. Im nahegelegenen Magazin kaufe ich etwas Müsli und einen Joghurt. Mit der Tasse Kaffee wird alles gleich auf den Stufen des kleinen Ladens eingenommen. Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, winke ich den Mitarbeitern des Krankenhauses nochmal zu und rolle zurück auf die Hauptstraße. Eine halbe Stunde später komme ich am Grenzübergang an. Dichtes Gedränge aber nur auf Seiten der Taxifahrer und Minibusbesitzer. Ich schiebe mein Rad zur Kontrolle. Kein Problem, weiter, heißt es. Noch ein letztes Grenzhäuschen und der erste Teil ist geschafft. Das Erstaunen der Grenzer ist groß, da nicht alle Tage ein Radfahrer hier vorbeikommt, meine ich zu glauben. Doch später stelle ich fest, dass das Erstaunen eher der Fahrtrichtung und dem fehlenden Stempel galt. Mir wird in letzter Minute die Weiterreise verwehrt. Ohne Stempel gibt es hier kein durchkommen. Nach vier Stunden muss ich der Wahrheit ins Gesicht blicken. Geschlagen werde ich nun doch den Weg über den Kaukasus nehmen müssen oder einfach nach Hause fahren. Ich bin gebrochen, da doch alles immer so reibungslos geklappt hat. Mit schlechter Laune schwinge ich mich, unter den tausend Augen der Umstehenden auf mein Rad und begebe mich auf den Rückweg. 200 km und noch zwei Tage Visa. Es hätte alles so gut geklappt. Wieder komme ich an der Seitenstraße zum Krankenhaus vorbei, entscheide mich aber weiterzufahren, da ich den Stirnrunzlern nicht die Bestätigung geben will, die sie eigentlich verdienen.
Wenigstens komme ich schneller voran als am Tag zuvor. An den Ruinen und kleinen Sehenswürdigkeiten kann ich getrost vorbei fahren und mich voll und ganz auf mein Fluchen konzentrieren. An einem Kiosk hole ich mir frisches Wasser, Brot und Waffeln als kleine Motivationshilfe für die nächsten 170 km. Die Kilometer fliegen nur so dahin. Die Dinge die um mich herum passieren blende ich aus und so kann ich meinen Gedanken nachhängen und mir eine gute Ausrede einfallen lassen, für die Grenzbeamten auf der anderen Seite, die mit Sicherheit fragen werden, warum mein Visum abgelaufen ist.
Ohne es wirklich zu merken, komme ich an der Stelle vorbei, an der ich auf meinem gestrigen Weg zur Grenze, einem kleinen, abgemagerten Hund, am Straßenrand liegend, etwas Wasser und Müsli gegeben habe. Das winseln des kleinen Knopfes holt mich abrupt aus meinem Gedankenspiele. Diesmal kriecht er auf der anderen Seite herum, ausgerechnet auf meiner Fahrseite. Ich halte erneut an. Er sieht noch schlechter aus als den Tag zuvor. Die Sonne brennt unermüdlich und ich gebe ihm mein ganzen Vorrat an Wasser. Das Brot welches ich gekauft habe, gebe ich zur Hälfte dem Winzling und ein paar Waffeln.Er schlingt, soweit seine Kraft es zulässt, alles runter. So wie am Tag zuvor schwinge ich mich unterdessen auf mein Rad und fahre davon. Kurze Zeit später vermag ich ein leises aber deutliches Winseln zu hören. Ich drehe mich um und am Straßenrand sehe ich den kleinen Hund mit letzter oder vielleicht auch neuer Kraft, meiner Spur folgen. Das Fiepen und Wimmern wird lauter. Als er mich erblickt bleibt er stehen. Ich muss dieses Situation auflösen und schwinge mich wieder aufs Rad. Am Tag zuvor konnte oder wollte ich ihn auch nicht mitnehmen. Ich trete an, das Wimmern beginnt erneut. Ich drehe mich während der langsamen Anfahrt um und sehe den Vierbeiner, wie er sich mit Müh und Not Meter um Meter hinter mir her schleppt. Nach gut 200 bis 300 Metern halte ich an, er folgt mir und ich gebe mir einen Ruck, wickel ihn in meine Jacke und lege ihn auf meine Packsäcke auf den Gepäckträger. Er schläft sofort ein und wir radeln gemeinsam bis es anfängt zu dämmern. Am letzten kleinen Kiosk vor der Hauptstadt halte ich an. Ich muss mich ja ab sofort nicht nur um mich kümmern, was schon einer Mammutaufgabe gleich kommt, sondern auch um meinen vierbeinigen Weggefährten. Ich kaufe zwei Dosen Fleisch und eine Flasche Wasser. Der kleine Knopf schlingt alles genüsslich herunter.
Kurz vor sieben Uhr kommen wir wieder am Wegweiser zum Flughafen vorbei. Bis zur Grenze ist es heute eh unmöglich. Ich biege ab, in der Hoffnung bei Viktor eine Bleibe für eine Nacht zu bekommen. Als ich auf die Wiese vor den Wohnkomplex von Viktor fahre, sehe ich seine Frau vor dem Haus stehen. Ich schlucke, oje das gibt Ärger. Ich begrüße sie und durch das offene Fenster hört Viktor meine Stimme und kommt die zwei Stockwerke nach unten gelaufen und begrüßt mich herzlich. Er freut sich mich zu sehen. Ich erzähle ihm in Kurzfassung alles und mache einen Schritt zu Seite. Hinter mir sitzt Didi, der kleine, zerbrechliche Vierbeiner. Auf dem Weg zu Viktor kam mir dieser Name in den Sinn. Sein voller Name ist Gali Zugdidi. Er symbolisiert die Grenzstadt die ich nicht erreichen konnte. Viktor hört sich alles in Ruhe an und sagt einen Satz, den ich in den nächsten Monaten noch sehr oft zu hören bekomme. “No Problem”
Ich übernachte mit dem Hund in der Garage von Viktor, da ich den kleinen Didi nicht alleine, bei all den vielen streunenden Straßenhunden, draußen lassen will. Was für Begegnungen, welche Hilfsbereitschaft und welche Selbstverständlichkeit. Ich denke diese Nacht noch lange über diese Begriffe nach. Und warum all die Menschen, jenseits unserer Grenzen so einen schlechten Ruf haben. Es ist einfach beschämend.
Der Morgen beginnt mit einem Frühstück bei Viktor und Didi wartet im Treppenhaus. Mit meinen gesponserten Erste-Hilfe-Handschuhen, wasche ich anschließend den kleinen Kerl und bringe ihn etwas in Form. Jetzt sieht er schon nicht mehr ganz so schlimm aus. Doch was nun? Mein Visum läuft heute aus. Wieder höre ich, das es kein Problem sei. Heute ist Samstag, der 22. September und Montag fahren wir zum Ministerium und beantragen ein Neues. Ich bin erstaunt und erleichtert zu gleich. Bei Viktor kann ich auf jeden Fall nicht bleiben, wir können ja nicht ewig in der Garage schlafen. Kurze zeit später schwingen wir uns, samt Hund, auf unsere Räder und fahren zu dem Haus, wo ich schon eine Nacht übernachten durfte. Diesmal werde ich bei den Nachbarn gegenüber einquartiert. Alla und ihre Halbschwester und ihr Mann freuen sich. So sind sie wenigstens nicht ganz alleine in einem riesigen Haus und angrenzenden Grundstück. Sogar das Meer ist nur hundert Meter über eine große, saftig grüne Wiese entfernt. Alles sind glücklich und wie immer “Kein Problem”.
Ich helfe im Garten mit, wir bauen ein Gewächshaus und ernten Kakifrüchte und Kiwis.
Der kleine Hund ist sichtlich erleichtert und wächst und gedeiht. Die Tage vergehen und wir sind auf dem Weg ins Ministerium für ein neues Visum. Ich entschuldige mich bei dem Beamten, für die Überschreitung der erhaltenen Aufenthaltsdauer. Dieser schaut mich nur ungläubig an und fragt: “Wie viele?” Ich blicke etwas verdutzt und er wiederholt seine Frage. Ich sage: “Naja, zehn Tage nochmal??!!” Er merkt das ich mir unsicher bin und gibt mir ein Monat. Ich kann es nicht glauben, einfach so. Ich bezahle einen Obolus von 350 Rubel und die Angelegenheit ist vom Tisch. Beim Mittagessen bedanke ich mich bei Viktor und der sagt nur “No Problem”. Wir lachen beide und genießen unser Essen. Anschließend laufen wir zum Gebäude gegenüber, einen guten Freund von Viktor besuchen. Wir sitzen im Büro des Chefs der Rundfunkanstalt. Na einem Plausch steht fest, morgen kommt ein Team vorbei und macht ein Interview mit mir. Erledigt. Weiter geht es zum Tierarzt. Kaum haben wir den kleinen Laden an der Ecke betreten, erzählt Viktor mit viel Herzblut und Freude, die Geschichte, wie wir uns kennengelernt haben und wo ich her komme und was es mit dem Hund auf sich hat. Der kleine Didi ist immer mit dabei und alle schließen ihn in ihre Herz.
Paradoxerweise sind die Straßen voll mit streunenden Hunden jeglicher Couleur. Keiner beachtet sie, sie sind in vielen Augen einfach nur lästig. Doch jetzt stehen in diesem kleinen Laden alle Besucher und Ärzte um den Hund herum und wollen in streicheln und liebhaben. Den Hund, der vor wenigen Tagen noch im Dreck am Straßenrand lag und fast verhungert wäre.
Didi bekommt ein paar Spritzen und was gegen Flöhe. Die Mittel und Kapazitäten in der kleinen Praxis sind sehr begrenzt und eher auf Katzen ausgelegt. Es wird noch ein Foto geschossen und der kleine Knopf bekommt ein Starterpaket mit Futter geschenkt. Das ist ja wie Weihnachten. Am späten Nachmittag haben wir alles erledigt und fahren zurück. Morgen kommt das Fernsehen.






