Der Bummelzug schiebt sich geduldig durch Täler und endlos lange Tunnel. Pünktlich zur Mittagszeit heißt die letzte Haltestelle Inzer. Ich bin der letzte der mit all seinem Gepäck den Bahnhof verlässt. Mit mir, sind nur die beiden Schaffnerinnen und eine Familie bis zur Endhaltestelle gefahren. Das Dorf liegt verschlafen auf mehreren kleinen Hügeln verteilt und zum Glück gibt es nur eine große Hauptstraße, was es für mich einfach macht, den Weg zu meiner eigentlichen Fahrroute zu finden. Ich schlängel mich durch die Ortschaft, stocke meinen Wasservorrat noch zusätzlich auf und schon stehe ich auf der Bundesstraße, die mich durch das Uralgebirge führen soll. Es ist brütend heiß und ich immer noch nicht wirklich fit, aber was soll`s. Der eigentliche Anstieg steht mir noch bevor, Belaresk und dann abwärts Richtung Magnitogorsk. Die Straße ist wenig befahren und sehr gut asphaltiert. Auf den ersten Kilometern mache ich immer wieder Bekanntschaft mit Kuh und Pferdeherden, die einfach herumlaufen oder auch mal ein Päuschen auf der Straße einlegen. Bergauf zu fahren war noch nie so das Problem, wenn es kurz und schmerzlos ist. Heute mache ich das erste mal die Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn man 20 bis 30 km bergauf fährt und das stetig. Es zieht sich und so schaffe ich die ersten 50km bis zum späten Nachmittag. Bei einer kurzen Verschnaufpause finde ich eine letzte Dose, koffeinhaltiger Limonade, in meiner Tasche. Die erste Belohnung des Tages geht runter wie Öl. Kurz darauf schlafe ich, in der zur Pause ausgesuchten Bushaltestelle, ein. Nach einer guten Weile wache ich auf und denke nur noch daran, mir endlich schonmal einen Platz für die Nacht zu suchen. Ich bin völlig gerädert und entkräftet. Ich schiebe das Rad, zum Aufwärmen, die nächsten Kilometer bergauf, in der Hoffnung wieder aus meinem komatösen Zustand zu erwachen. Nach gut zwei Kilometern, komme ich plötzlich auf die Idee nach meinem Telefon zu suchen. Ich krame in meinen Taschen aber alle Bemühungen sind ohne Erfolg. Mit einem Mal fällt mir ein, das ich auf meinem Telefon geschaut habe, wie spät es ist, bevor ich mich meiner kalten Erfrischung hingegeben habe. In windeseile ist das Rad gewendet und schon geht es die ganze Strecke, die ich mühsam hinaufgeschoben habe, wieder bergab. Zum Glück liegt es noch in der Bushaltestelle als ich eintreffe. Erleichterung macht sich breit, aber gleichsam auch der Gedanke, wer wohl allen ernstes so ein Telefon mitnehmen sollte. Überglücklich schiebe ich mein Rad wieder bergauf.
Völlig in Gedanken versunken, rast neben mir ein Transporter vorbei. Entnervt fluche ich vor mich hin, was das soll und überhaupt. Der Transporter stoppt einige Meter später. Ein Mann springt heraus und fragt mich wo ich herkomme und wo ich hin will. Ich gebe kurze Auskunft und einige Minuten später sitze ich dem selbigen, den ich gerade Verflucht habe. Andrey, ist auf dem Weg nach Belorezk . Mit im Bus sitzen noch zwei Frauen und schon geht es in rasanter Geschwindigkeit über den Asphalt. Auf dem Weg erzählt mir Andrey von sich und ich von ihm. Er hat ein kleines Hotel in der Nähe von Belorezk und lädt mich kurzer Hand ein, sein Gast zu sein. Ich bin völlig baff und sprachlos, wo ich mich doch schon irgendwo im Wald mein Lager aufschlagen gesehen habe. Ich bedanke mich und nun folgen einige Telefonate. Er weist seinen Sohn an, ein Zimmer vorzubereiten. Nach gut 20 Minuten kommen wir an.
Sein Sohn empfängt uns und ich beziehe mein Zimmer. Was für ein Luxus. Die Nacht zuvor habe ich noch in der Bahnhofswartehalle von UFA geschlafen. In einer Stunde gibt es Abendessen. Ich mache mich frisch und wenig später sitzen Andrey und seine Familie mit mir am Tisch. Der Abend ist unterhaltsam, es gibt selbstgemachten Tee und Whiskey. Später kommt noch Ulf aus Halle und sein Schwager dazu. Ulf kommt schon seit einigen Jahren hier her. Der Dialekt ist unverkennbar. Herrlich. Andrey ist ein geselliger und zugleich gemütlicher Gastgeber. In der Ecke gibt es eine kleine Bühne, mit Gitarren, Trommeln und Musikanlage. Wenn Freunde immer mal vorbei kommen, lacht Andrey. Wieder und wieder muss ich kurz innehalten, ob ich nicht noch in der Bushaltestelle im Tiefschlaf vor mich hin träume.
Am nächsten Morgen habe ich dann aber volle Gewissheit. Der breite Schädel bestätigt alles. Ich schlender zum Frühstück und alle anderen sind schon auf. Gleich wollen wir zum Wandern in die Berge fahren. Ich beeil mich, leih mir einen Rucksack von Andrey und schon sitzt die Meute vom Abend zuvor und drei weitere Gäste des Hauses im Transporter. Mit der Gondel fahren wir bis auf 1300m und beginnen am Pick unsere Wanderung. Das Uralgebirge ist ein Mischung aus Harz und Elbsandsteingebirge. Ulf ist seit einigen Jahren Geografie und Physiklehrer in Süddeutschland. Er ist ein wahrer Experte auf dem Gebiet der Geologie und kann viele Einzelheiten zur Beschaffenheit und Lage machen. Wir wandern durch verschlafene Wälder, klettern über Felsbrocken einen Wasserlauf empor, trinken aus glasklaren Quellen und genießen den ein oder anderen Ausblick. Am späten Nachmittag sind wir wieder zurück. Ich packe meine restlichen Sachen und verstaue alles auf dem Rad. Noch ein kurzer Plausch und schon sitze ich wieder im Sattel gen Osten. Es waren wunderbare Begegnung und vor allem ein Ort um den Akku wieder aufzuladen.
Meine anfänglichen Vorstellungen zum Uralgebirge waren völlig falsch. Immer hatte ich ein Bild im Kopf, von einem massiven, trockenen und unwegsamen Gebirge, welches die Grenze zwischen Asien und Europa bilden soll. Das Uralgebirge hingegen ist eine wahre Oase an urigen Wäldern, saftigen Tälern mit kleinen Dörfern, dutzende Seen, die wie Spiegel in der Ebene liegen, verschlungenen Flüssen und unberührter Natur. Die Größe Russland ist in der Hinsicht ein wahrer Vorteil, das sehr viele Gebiete nicht einfach oder gar nicht zu erreichen sind. So bleiben Landstriche in ihrer fast ursprünglichen Form erhalten.
Doch es geht auch anders. Seit UFA befinde ich mich in Baskurdistan, eine wahre Naturidylle. An der Stelle wo ich das Uralgebirge überquere ist es nicht ganz so breit wie weiter nördlich. Die weiten Ebenen von Kasachstan habe hier schon ihre ersten Ausläufer. Von Belorezk geht es nach Magnitogorsk. Die erste Stadt im Chelyabinskaya Oblast. Der Unterschied ist deutlich spürbar. Eine Industriestadt wie sie im Buche steht. Ohne Navigation gelange ich nach einem kleinen Umweg ins Zentrum. Die Stadt wirkt wie am Reisbrett erfunden. Industriecharm aller Epochen hat sich hier versammelt. Am anderen Ufer der … kann man das ansässige Stahlwerk, welches einen eigenen Stadtteil bildet deutlich sehen und riechen. Bis vor wenigen Jahren war es das größte Stahlwerk der Welt. Mittlerweile hat die Stahlindustrie in Indien aber aufgerüstet. Was die Sache an sich nicht besser macht. Ich stelle mir vor, wie es sein muss, wenn der Wind aus einer anderen Richtung weht. Schrecklich. So schnell wie möglich will ich weiter. Ich wollte eigentlich gar nicht hier sein, doch es gab keinen anderen Weg, als über Magnitogorsk. Und jetzt stehe ich in dieser unwirklichen Stadt, denke an die Tage zuvor im Ural und komme nicht wirklich weiter.
Überall Straßen und Brücken. Über eine der drei großen Brücken muss ich rüber, das habe ich nach mehrmaligen Fragen erfahren. Nur welche. Ich entscheide mich für die linke. Und schon bin ich auf der anderen Seite. Ich fahre und fahre und befinde mich mitten im Gebiet des Stahlwerkes. Es ist wie eine andere Welt. Grau, dunkel, dreckig. Es könnte auch das Leipzig von vor 30 Jahren sein. Mühselig schleppe ich mich durch das Gebiet, da wo ich nie hin wollte. Und ich stecke mitten drin. Nach langem Suchen finde ich eine Straße die mich über eine Brücke wieder zurück in die bewohnte Stadt bringt. Somit kann ich zwei Brücken ausschließen. Bleibt nur noch eine. Wunderbar. Geschafft. Ich radel den langen Prospekt entlang, der Verkehr wird immer dichter und der Himmel zusehends dunkler. Kurz bevor es wie aus Eimern schüttet, kann ich mich mit einem Satz in eine kleine Stalowaja flüchten. kaum habe ich aufgegessen ist der Spuck vorbei und ich kann meine Fahrt fortsetzen. Die Schnellstraße ist wenig befahren und führt mich immer weiter gen Osten. Das erste Schild weist schon auf das Gebiet, welches ich später erreichen will. Es geht vorbei an Rostock. Später folgen Orte wie Berlin, Paris und Leipzig. Mein nächstes Ziel heißt Leipzig im Ural.













