Das einzige kleine Loch in der Wolkendecke ist heute, 21. August. Aber nur ab der Grenze zu Russland. In strömenden Regen fahre ich zum Bahnhof von Petropavlovsk und sitze wenige Minuten später in einer kleinen Bummelbahn, die mich bis nach Bulaevo, 40 Kilometer vor der Grenze und dem besagten Hoch bringen soll. Und tatsächlich, als ich aussteige, regnet es nicht, allerdings habe ich ein anderes Problem. Ich habe im Zugabteil mein Rad durch eine kleine aber spitze Glasscherbe geschoben. Ein ganz großes Manko in Kasachstan, überall liegen Glasscherben. Bis zum Übergang über die Gleise trage ich mein Rad, dann ein kurzer Sprint zurück und die restlichen Taschen holen. Am Übergang ein Blick nach links und rechts. Ein Zug naht sich, langsam aber stetig. Ich wuchte mein Rad, über vier Gleise, auf die andere Seite, zum Bahnhofsgebäude. Jetzt heißt es, beeilen! Ich renn zurück, hole meine Taschen. Da ich nicht alles mit einem Mal weg bekomme, wiederholt sich der Vorgang. Der Zug kommt und als ich meine letzten beiden Taschen zu den anderen stelle, hält der Zug im Bahnhof. Endlos reiht sich ein Wagon an den anderen. Hätte ich meine Taschen nicht rechtzeitig auf die andere Seite verfrachtet, würde ich jetzt nicht mehr an mein Zeug kommen.
Ich beschließe alles in die Bahnhofshalle zu tragen. Kurze Zeit später beginne ich meinen Reifen erneut zu flicken. Bis auf einen Platten, gehen alle übrigen auf das Konto von Kasachstan. Aber die Freundlichkeit macht es wieder wet. Im Bahnhof muss ich, nachdem alles hereingetragen ist, meinen Pass zeigen. Wieder das gleiche Frage-Antwort-Spiel. Die Aufmerksamkeit zieht weitere Personen an. Am Ende kommen zwei Mechaniker in die Wartehalle, die kurzer Hand meinen Schlauch flicken und ihn wieder in den Reifen setzen, aufpumpen und montieren. Ich darf wenigstens noch die Schrauben fest ziehen. Nach einer halben Stunde suche ich mir im Ort eine Autowerkstatt und gebe dem Reifen den letzten Druck. Nach all der Aufregung, gönne ich mir ein verspätetes Frühstück und verfrühtes Mittagessen in einer kleinen, versteckten Stalowaja.
Nach einer Stunde bin ich bereit für die erste 40 Kilometer bis zur Grenze. Das Wetter ist stabil und die Wolken sind noch in einem akzeptablen hellgrau. Eigentlich hatte ich etwas darauf spekuliert an der Grenze ein paar LKW-Fahrer zu finden, die mich mit nach Omsk nehmen könnten. Die Gedanken kreisen, nach dem Wetter der letzten Tage, immer wieder um eine warme Fahrerkabine. Aber der Grenzübergang ist alles andere als groß und ein LKW weit und breit nicht in Sicht. Überhaupt ist wenig Verkehr. Die Überfahrt an der Grenze verläuft unspektakulär und das einzige was sich geändert hat, ist der Fahrbahnbelag. Von schon etwas in die Jahre gekommen, aber immer noch gut, hin zu gestern, frisch aufgetragener, Spitzenasphalt ala Formel eins. Die Freude am Fahren kommt mit jeder Radumdrehung zurück und die Kilometer fliegen nur so dahin. Es ist kurz nach eins und das Ziel zum greifen nah. 160 Kilometer bleiben noch. Nach vier Tagen des Pausierens ist der Akku wieder voll aufgeladen. Ich weiß, dass Tatjana und ihre Mutter am kommenden Morgen, fünf Uhr, in Omsk am Bahnhof ankommen. Ich beschließe für den heutigen Tag keine Übernachtungsmöglichkeit zu suchen sondern durchzufahren. Wenn nötig die ganze Nacht. Ich möchte endlich ankommen und der für die kommenden Tage wieder angekündigte Regen, ist zudem ein Ansporn. Gegen frühen Abend koche ich in einer Bushaltestelle, wie schon am ersten Tag in Kasachstan, einen Müsli-Haferflocken-Brei mit allem was ich noch an Essbarem, in meiner Tasche mit mir rum fahre. Die Straße bleibt bis Omsk in einem astreinen Zustand und der Verkehr hat auch nur unwesentlich zugenommen.
Gegen 22 Uhr passiere ich das Ortseingangsschild von Omsk. Ich bin so erleichtert und eine Euphorie macht sich in mir breit. Bis ins Zentrum sind es noch gute 30 Kilometer. Aber das ist egal, meine Beine bewegen sich ohne Unterlass, voll automatisch. Kurz vor Ladenschluss bekomme ich in einem kleinen, feinen Lokal, noch eine warme Mahlzeit. Ein heißer Tee bringt die mittlerweile erkalteten Beine wieder in Schwung. So langsam erkenne ich, noch von meinem ersten Besuch in Omsk, die ein oder andere Ecke wieder. Am Flughafen vorbei, geht es, an den großen Einkaufsmärkten und Möbelhäusern, schnurgerade auf den Irtysch zu. Mit ein paar Autos überquere ich die große Brücke ins Stadtzentrum. Tagsüber herrscht hier reges Treiben und eine endlose Blechlawine schiebt sich den großen Prospekt entlang. Doch jetzt ist alles Menschenleer und still. Ohne Karte oder Navigationsgerät habe ich es, in dieser Millionenmetropole, bis zum Bahnhof geschafft. Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter. Mittlerweile ist es halb zwei Uhr Morgens. Die restlichen Stunden verbringe ich im Bahnhofscafe.
Pünktlich 5:03 Uhr rollt der Zug im Omsker Bahnhof ein. Die Wiedersehensfreude ist groß und die restlichen 30 km bis nach Gauf nur noch Kür. Obwohl ich nach dem gestrigen Abend, heute ein paar Probleme habe, mich zurecht zu finden. Der Weg zu Tatjana´s Schwester führt durch Stadtviertel, dir mir völlig unbekannt sind und die Straßen zudem sehr verwinkelt sind. Mit reichlicher Verzögerung komme ich aber doch noch am Bestimmungsort an und die Freude ist groß. Die Banja ist schon auf Wohlfühltemperatur gebracht und ein deftiges Essen steht schon auf dem Tisch.
Die nächsten Wochen werden wir nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Wir gehen in die Pilze, versuchen eine Schifffsfahrt auf dem Irtysch zu machen, doch es gibt kein Bootsanleger mehr, ernten Gemüse in Hülle und Fülle, installieren eine neue Treppe an der örtlichen Poststation, spazieren über wilde Wiesen und Felder, durch verwunschene Dörfer und lassen die Seele einfach baumeln.
Doch dann kommt alles anders...









