Robinsons Kummer…

Heute ist der 10. Oktober, Viktor und seine Frau sind vor wenigen Tagen nach Deutschland geflogen. Manfred, hat mir und Didi eine Unterkunft angeboten. Er selber hat ein großes Grundstück, nicht ganz soweit ab vom Schuss wie vorher. Auch kann ich hier den Luxus eines Internetanschlusses genießen. Es dauert ein paar Tage bis sich Didi und der Hund von Manfred aneinander gewöhnen und akzeptieren. Eine graue Katze mit einschlägigem Bärtchen rundet das neue Trio ab. 30 Tage Inkubationszeit muss ich jetzt abwarten, bis Didi auch nur eine, seiner vier Pfoten über die russische Grenze bewegen darf. Dann erst ist die Tollwutimpfung komplett durch. Ich überlege lange was ich jetzt nun machen soll. Von Alla erfahre ich, dass sie jemanden suchen, der für ein paar Tage auf Haus und Grundstück aufpasst. Wo ich doch erst vor wenigen Tagen von dort abgeholt und zu Manfred gefahren wurde. Oh man, das Chaos ist perfekt. Aber da ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, den Hund für eine gewisse Zeit alleine zu lassen, nicht solange er noch so dünn und zerbrechlich ist und vor allem, wenn so langsam ein kleiner Rüpel aus ihm zu werden scheint, solange kann und will ich nicht meine Hundevaterpflichten aufgeben.

Also entschließe ich nach einigen Tagen, zurück zu Alla zu fahren und dort auf das Haus aufzupassen. Endlich habe ich mal meine Ruhe. Endlich keine Termine, kein ständiges Hin und Hergefahre. Doch ein großer Nachteil bleibt. Dort habe ich keinerlei Kommunikationsmöglichkeit, kann meine weiteren Schritte nur durchdenken aber nicht recherchieren. Aber ich möchte für einen Moment meine Ruhe. Doch das Kommunikationsloch wird immer größer, zwar habe ich viel zu tun, aber so richtig planen und organisieren kann ich nicht. Das erste Mal komm ich an meine Grenzen. Wie soll es weitergehen, wenn die Inkubationszeit vorbei ist, wenn das Ziel erreicht ist? Eine gute Frage.

Alleine bin ich nicht, zumindest für den Anfang. Immer wieder kommen Leute vorbei, die entweder Nachbarn, gute Freunde oder Familienangehörige sind. Angeblich. Für die einen geht es darum ein paar Mandarinen zu pflücken und mit zu nehmen oder ein paar Gartengeräte auszuleihen. Als ich aus Unwissenheit zustimme, werden schnell aus kleinen Tüten voll mit Mandarinen und Feigen, ganze Schubkachenladungen. Und nicht nur eine sonder drei, vier.

An einem Abend zaubere ich aus meiner Tasche, ziemlich weit unten verstaut, das kleine Reiseradio hervor, welches mir vor der Abfahrt in Leipzig, dankender weise, mitgegeben wurde. Jetzt entpuppt es sich als wahrer Hoffnungs- und Freudenspender. Die gute Laune ist zurück. Herrlich, jeden Tag dudelt der Weltempfänger von früh bis spät.

Am nächsten Morgen erinnere ich mich, bei einer leckeren Tasse Kaffee, das in einigen Radreise-Blogs immer mal wieder die Rede von aggressiven, streunenden Hunden in Georgien oder der Türkei war und die Reisenden sie mit Müh und Not abschütteln konnten. Jetzt wurde mir erstmals so richtig bewusst, was es für uns beide heißen könnte, wenn wir mit Rad und Tat über Land gen Heimat reisen. Mittlerweile wurde in meiner Vorstellung, die immer noch anstehende Überquerung des Kaukasus, mit Hund und Rad, zur Mammutaufgabe. Es gibt durchaus Züge, die Rad und Hund mitnehmen. Nur wie zur Grenze kommen, mit Sack und Pack und Hund? Als in meiner frühen Kindheit Talente vergeben wurden, war das Organisationstalent nicht mit dabei. Mein Organisationstalent saß mittlerweile wieder in Leipzig und hatte eine Telefonrechnung die schon beim drüber lesen Magenbeschwerden aufkommen lässt.

Nach einigen Tagen statte ich meinen direkten Nachbar einen Besuch ab, um nach einer alten Obstkiste zu fragen. Ich möchte probieren, ob Didi in der Kiste, die ich auf meinem Gepäckträger befestigen will, mitfahren kann. Ich schlender aus dem Gartentor und klingle nebenan. Ich werde herein gebeten und aus meinem Plan, nur kurz zu fragen, wird ein kleiner Umtrunk. Es wird Kaffee, Cognac, Limonade gereicht und dazu Gebäck. Ich erfahre, dass der älteste Sohn vor gut einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Bei der Fahrweise hier nicht ganz verwunderlich. Auf dem Weg zum elterlichen Haus ist er auf den letzten drei Kilometern, beim Abbiegen, von einem LKW-Fahrer übersehen wurden. Tragisch. Jetzt gleich wieder zu gehen, wäre der falsche Schritt und so bleibe ich und leiste Gesellschaft, was dankend angenommen wird.

Nur der Gedanke an meine offene Haustür und die ständigen Besuche von der halben Nachbarschaft, lässt mich etwas unruhig werden. Nach einer Stunde kann ich mich dann auch verabschieden und kehre mit einer großen Obstkiste zurück. Keine Besucher sind vor Ort und alles scheint beim alten zu sein. Scheint es. Nur höre ich nichts. Das Radio ist weg. Ich suche überall, ich bin ratlos und irgendwie fühle ich mich wie Robinson Crusoe, der seinen einzigen Freund Freitag verloren hat. Ich in so verzweifelt, dass ich am nächsten Tag meinen Nachbarn davon berichte. Alle sind etwas ratlos und aufgelöst zugleich. In der Zeit  nimmt Rudik, der zudem auch Verwaltungsleiter der Region ist, sein Telefon in die Hand und führt ein paar Telefonate. Als ich gute 20 Minuten später wieder auf meiner Seite des Zauns stehe, liegt der Weltempfänger wieder auf dem Tisch. Ich kann es nicht fassen und bin glücklich wie ein kleines Kind unterm Weihnachtsbaum. Wer das Radio letztendlich genommen hat bleibt nur eine Vermutung.

Endlich war er da, der Tag meiner geplanten Abreise ist gekommen, um mit Didi, Rad und Gepäck Richtung Vladikavkas aufzubrechen. Manfred bot mir an, mich abzuholen. Doch durch Zufall erfahre ich, das die einzige Brücke, für den Zug- und Busverkehr, durch starke Regenfälle vom Vortag, unterspült und unpassierbar geworden ist. Mein Vorhaben einen der beiden Züge zu nehmen, die zweimal die Woche zwischen Adler und Vladikavkas verkehren, war vorerst auf Eis gelegt. Ich packe meine Sachen wieder aus und eine weitere Woche genieße ich den großen Garten, Meer und angenehmes Wetter. In den nächsten Wochen folgen immer wieder Ereignisse, in denen kurz vor meiner Abfahrt irgendetwas dazwischen kommt. Mal eine verstauchte Pfote, wieder starker Regen, der Chip der noch registriert werden muss etc.

Beim Amtstierarzt lasse ich den Chip wie vorgeschrieben registrieren und erfrage zudem, dass das noch benötigte Zertifikat, für die Einreise in die EU, erst bei Vorlage eines gültigen Flug- oder Bahntickets ausgestellt und/oder nur fünf Tage gültig ist. Und ich hatte gedacht, ich hätte die Bürokratie endlich hinter mir gelassen. Jetzt war es aber auch an der Zeit, mal meine noch verbleibenden Tage meines Russlandvisums nach zu rechnen. Gesagt getan und am folgenden Abend nehme ich mir die Zeit, krame in meiner Erinnerung, wie, wo und wann ich ein und ausgereist bin und zähle alle zusammengetragenen Tage zusammen. Ich komme genau auf 88 Tage. Zwei Tage habe ich also noch. Die Weiterreise geht in eine neue Runde.